Prüfstand 7

Filmdienst, 12-2002,
von Hans Messias

Ein Mythos sucht seinen Ursprung. Das ist gar nicht so einfach, wenn dieser nicht zu den gewachsenen Mythen gehört, sondern zu den erdachten. So ist das Raketenkind Bianca, das am 3. Oktober 1942 das Licht der Welt bzw. deren Abbild erblickte, hinter seinen Vätern her. Gefangen in einem Schleier, der der Kühlung dient und die Schmelze des Antriebsaggregats verhindert, will Bianca Kontakt mit der Welt aufnehmen, wird dabei aber ständig mit ihren Erkenntnisgrenzen konfrontiert. Denn das Raketenkind wühlt zwangsläufig im mythologischen Müll, muss Fritz Langs „Frau im Mond“ ebenso als Ahnfrau mutmaßen wie die Bemühungen der Nazis, in Peenemünde und Nordhausen das Zentrum der Raumfahrt anzusiedeln. Eine Knochenarbeit, die in den 30er- und 40er Jahren allerdings nicht das Herrenvolk leisten musste – das stellte mit Chefingenieur Wernher von Braun den geistigen Vater der Rakete – , sondern von den 60.000 Insassen des Konzentrationslagers Dora erbracht wurde. Von denen starben 20.000, bevor die Rakete gegen Antwerpen und London gelenkt werden konnte. Bianca versucht, die Gründe dieses Forschergeistes zu hinterfragen, arbeitet sich an der phallischen Form des Flugkörpers ebenso ab wie an den männlichen Fantasien, die im Stahlzylinder partout weibliche Formen erkennen wollen. Sexualität und (All-)Machtfantasien gehen so eine denkbar schlechte Verbindung ein, deren greifbares Resultat mit dreifacher Schallgeschwindigkeit den Beginn eines neuen Zeitalters signalisiert.

Das hört sich kompliziert bis konfus an und ist es auch ein wenig; Denn Bianca ist kein Geschöpf aus Peenemünde, sondern entspringt der Fantasie des amerikanischen Romanciers Thomas Pynchon, der sie in seinem Roman „Enden der Parabel“ („Gravity’s Rainbow“) erdachte. Ebenso wie Biancas Geliebter Slothrop, dessen Erektionen die Einschläge der V 2 – Raketen in London vorhersagen konnten; um sich voll und ganz der Rakete zu widmen, ließ er sogar seine Geliebte sitzen. Mythen, Dokumentarisches und Spielhandlung durchdringen sich und ergeben in Robert Bramkamps essayistischer Auslassung „Prüfstand 7“, der Schmiede des Raketen-Mythos, ein kompliziertes Geflecht. Rund ein Viertel des Filmtextes basiert auf Pynchons Roman – eigentlich eine Sensation, da sich der sperrige Autor bislang gegen alle Verfilmungen seiner Werke wehrte. Die restlichen drei Viertel sind Fiktion, die Archivmaterial, Recherche, Interviews und Spielhandlung verbindet, um die Brücke von Peenemünde nach Bremen zu schlagen, wo 1998 der Technologie-Park „Space Center“ eröffnet wurde, der der Raketentechnik ein Denkmal stellt, ohne ihre Ursprünge zu hinterfragen. Hier wird der reine Forschergeist gefeiert; die Opfer sind längst kein Thema mehr. Auch das ist es, was das Raketenkind Bianca umtreibt: Geschichtslosigkeit und der hybride Fortschrittlichkeitswahn, der den „Selbstmordversuch des Todes“ zwar zur Kenntnis genommen hat, ihm jedoch keine größere Bedeutung mehr beimisst.

„Prüfstand 7“ fragt nach der Ethik der Technik, bricht eine Lanze für den Tod, der sich selbst überlebt hat, sucht nach Spuren von Liebe, die irgendwann auf der Strecke geblieben ist. Dazu sucht Bramkamp die KZ-Gedenkstätte Dora ebenso auf wie Mitglieder des Fördervereins Peenemünde, befragt den Anführer eines „Germanen“-Vereins (nach der Bedeutung der abgeschlagenen Hand) ebenso wie den Chef des Bremer Technologie–Parks (nach der Plasma-Hand, die das Bewusstsein berührt). Denn die Hand spielt eine zentrale Rolle in „Prüfstand 7“. Durch sie findet nicht nur der Erfindergeist seine mechanische Umsetzung, sie liebkost Raketenkörper, selbst von Braun streichelt damit wiederholt sein Geschöpf, sie wird von den Germanen nach Walhall getragen, findet sogar in der Stadt Antwerpen (Hand werfen), einem der bevorzugten V2-Ziele, ihre Entsprechung. „Prüfstand 7“ ist ein überbordender Film, der sich gerade durch seine Komplexität verschließt und immer neue Lesarten anbietet, letztlich aber nur schwer entziffert werden kann, weil er wie Bianca durch Geschichten wie die Geschichte driftet, ohne den Schleier lüften zu können. Bramkamps Film ist schwer einzuordnen: weder Spielfilm noch Literaturverfilmung, weder Dokumentarfilm noch eine Mischform von allem, kopflastig und schwer zu entschlüsseln, aber gerade deshalb ein Film, der zum mehrmaligen Anschauen herausfordert. Eine Hypothek freilich, die es ihm in den Kinos nicht unbedingt leicht machen wird.