Das Phantom der Pixel

FAZ, 02.12.2001,
von Peter Körte

Der Dichter Thomas Pynchon verbirgt sich vor den Medien und der Öffentlichkeit.
Dennoch wird er jetzt zum Filmhelden

Göttingen ist ein Ort, an dem Phantome sich zuhause fühlen. Man kann sich vorstellen, wie im grauen November ein Mann von Anfang sechzig unbeachtet durch die kleine öde Stadt geht, durch die große Fußgängerzone, wie er übers Universitätsgelände streift und nach Figuren seines neuen Romans sucht; wie er nach Professorenporträts auf alten Postkarten fahndet, die man Anfang des Jahrhunderts in der Stadt verkaufte. Gewiß gab es auch ein Porträt von David Hilbert, der 1900 auf einem Pariser Kongreß einen Vortrag über 23 Probleme der Mathematik hielt, die zum Teil bis heute nicht gelöst sind, der seine Blumenbeete umgrub, um dann wieder zu seiner Schiefertafel im Garten zurückzugehen und Formeln anzuschreiben. Er scheint direkt aus dem Roman zu
stammen, in dem seine junge russische Studentin sich in einen Kommilitonen verliebt. Und vielleicht war das Phantom aus New York wirklich in Göttingen, um zu erkunden, wie es dort ausgesehen haben könnte.

Man muß deshalb nicht nach Göttingen fahren. Aber es ist leichter, als nach Manhattan Beach am Pazifik zu pilgern. Dort steht an einer Straße, die zum Strand hinunterführt, ein unscheinbares Haus, in dem das Phantom gewohnt haben soll, Mitte der sechziger Jahre. Eine junge Frau besuchte ihn damals oft, die Ehefrau eines Freundes, und jetzt sie steht da und sagt in die Kamera, dies sei ein „historical moment“. Sie heißt Crissie Wexler und ihr „Jetzt“ ist die Zeit eines Dokumentarfilms. Weil sie sein Haus wiedererkannt hat, kommen nun ein paar Jünger von weither, um zu sehen, was mit bloßem Auge nicht zu sehen ist: Daß hier das Phantom an „Die Enden der Parabel“ arbeitete, am Jahrhundertbuch der Paranoia, das Tyrone Slothrop und der Flugbahn der deutschen V2-Rakete folgt.

Der Film von Donatello und Fosco Dubini hat allerdings einen falschen Titel: „Thomas Pynchon. A Journey into the Mind of P.“ Tatsächlich reist er nur durch die vielen Köpfe der Pynchon-Gemeinde, die sich körperlos vervielfältigt hat im Internet. Man sieht den Film dennoch gern, und seine Entstehungsgeschichte paßt zum Sujet. Ein „Internetfilm“, sagt Donatello Dubini. Recherchen im Büro, mit zirka 30.000 Fundstellen, die bei Eingabe von „Pynchon“ auftauchen; die Verabredungen für Interviews in den Vereinigten Staaten wurden per e-mail getroffen, selbst die Suche nach altem
Filmmaterial erfolgte übers Netz. Der Splitscreen als bevorzugtes Stilmittel erinnert daran, wenn Bilder, die in 35mm, Super8 und auf Mini-DV gedreht wurden, auf der Leinwand zusammentreffen. Die Gespräche dokumentieren einen ganz eigenen Schwebezustand. Ein Webmaster berichtet, Pynchon sei Ende
September/Anfang Oktober 1963 per Bus nach Mexico City gereist, genau wie Lee Harvey Oswald. „Vielleicht haben sie im selben Bus gesessen, vielleicht sogar miteinander geredet“ – natürlich sei das als Theorie lächerlich, doch Leute wie ihn erfreue schon die bloße Vorstellung.

Der Film erzählt in fünf Kapiteln von diesen Symptomen der Pynchonmania. Man schaut nach Peenemünde und auf Professor Irving Corey, den Schauspieler, der 1974 Pynchon doubelte und den National Book Award für ihn entgegennahm. Man sieht LSD-Experimente, welche die USArmy in den fünfziger Jahren durchführte, an Rekruten und an Katzen, und man erfährt, daß in Cornell zur selben Zeit, zu der Pynchon dort studierte, über Möglichkeiten der Gehirnwäsche geforscht wurde. Und man lernt einen selbstgefällig schwadronierenden britischen Journalisten kennen, der Pynchon 1997 auf offener Straße in Manhattan fotografierte. Doch das Phantombild ist nur ein Pixelhaufen. Man erfährt, daß es Ähnlichkeitswettbewerbe gibt, deren Veranstalter und Teilnehmer hoffen, das Original könnte sich einfinden, von dem es seit seiner Marinezeit kein Bild mehr gibt. Und dazu hört man die Musik von The Residents, die seit Jahrzehnten nur mit Masken auftreten, weil sie glauben, daß der wahre Künstler sich nur in der Anonymität entfalten könne.

Wer sich Pynchon zuwendet, dem wird virtuell alles, was er liest und fotografiert zum konspirativen Akt, obwohl der Gemeinde der Pynchonites längst bekannt ist, daß sich etwa Michael Naumann in seiner Zeit als Verleger in New York mit dem Phantom zum Lunch traf und später berichtete, daß dessen nächster Roman zum Teil im Göttingen des frühen 20. Jahrhunderts spielen soll. Es gibt die Geschichte vom CNN-Team, das Pynchon filmte und dessen Anwälte in Bewegung brachte. Der Sender zeigte schließlich ein Bild, auf dem sich rund 30 Personen tummeln, ohne kenntlich zu machen, wer von ihnen P. ist. Das sind die vielen Plots eines parallelen Pynchon-Romans, der keinen Autor hat, aber viele Agenten, die ihn weitertragen. Wie einen Virus, eine „bakterielle Politik“, wie es in „Die Enden der Parabel“ heißt. Und man
fragt sich natürlich, was das Phantom zum 11. September oder zu Anthrax zu sagen hätte, wenn Donatello Dubini erzählt, an diesem Tag habe er im Schneideraum eine Szene aus einem sowjetischen Trickfilm bearbeitet, in dem ein Flugzeug in ein amerikanisches Hochhaus fliegt.

Man sollte das Phantom einfach anrufen, sagt Robert Bramkamp, Regisseur und Dozent an der Filmhochschule in Babelsberg. Er hat zwar nicht selbst zum Hörer gegriffen, sondern nur von jemandem gehört, der es probiert hat, aber dafür hat Bramkamp die Genehmigung erhalten, Passagen aus „Die Enden der Parabel“ zu verfilmen. Von der Agentin, die auch die Ehefrau des Phantoms ist, und nach einem Initiationsritual, dem sich Bramkamp willig unterzog. Er sollte die Spur einer geheimnisvollen Person aus der Berliner Kunstszene aufnehmen, die angeblich Fotos von Originalzeichnungen der V2-Rakete aus dem Jahre 1944 besitze. Ratlos wie Tyrone Slothrop, dem aufgeht, „daß bestimmte Episoden seiner Träume nicht von ihm selbst stammen konnten“, schrieb Bramkamp nach New York, und Pynchon antwortete prompt: Es handle sich um einen Tippfehler, der Name des Mannes beginne nicht mit B., sondern mit „V“,
schrieb der Autor von „V.“.

Bramkamp hat mit der Erlaubnis in der Tasche „Prüfstand 7“ gedreht. „Dokufiktion“ nennt man das so leichthin, Bramkamp spricht lieber von „Visualisierungen“. Er zeigt Bianca aus dem Roman, für die Crissie Wexler Modell gestanden haben soll, in Spielszenen. Bianca ist der Geist der Rakete, und sie sucht nach ihrer Herkunft, die im Strahlantrieb, im Raketenofen liegt. Der Film läßt sie durch die Zeiten reisen, er zeigt Bilder aus Peenemünde, aus Adlershof, aus der Truman-Villa in Babelsberg, wo der amerikanische Präsident während der Konferenz von Potsdam logierte. Natürlich hat Bramkamp nicht Pynchon verfilmt. Er improvisiert das „Lied der Rakete“, wie der Film ursprünglich heißen sollte, mit einigen Pynchon-Noten, er führt Interviews mit Experten, er erzählt auch vom Daimler-Benz/Dasa-Spacepark-Projekt, das in Peenemünde aufgrund von Protesten gekippt wurde, weil man wählerischer war als die amerikanischen Behörden, die die Biografien von Naziforschern wie Wernher von Braun so bereinigten, daß diese nach 1945 in die Vereinigten Staaten einreisen konnten. Wo die Dubinis sich nach Amerika wenden, erkundet Bramkamps Bianca düstere deutsche Schauplätze. Demnächst wird Bramkamp ein Videotape des Films an Pynchon schicken.

Ein großes Publikum werden beide Filme nicht erreichen, doch die Gemeinde der „Pynchonites“ wird strömen. Sie hat von den beiden Filmen, die unterhalb des großen Kinoradars liegen, längst erfahren, durch seltsame Kommunikationssysteme wie „Tristero“ aus „Die Versteigerung von No. 49“, an das noch das Ballonsignalsystem der Jesuiten in „Mason & Dixon“ erinnert. Wie Slothrop, der die Rakete kommen hört, nachdem sie explodiert ist, ist Pynchon im Kino, bevor man ihn gesehen hat. Vielleicht, weil man mit Borges hofft, daß all die Bilder von Dingen und Personen, mit denen einer im Laufe der Jahre sein Werk bevölkert hat, ein „Labyrinth der Linien“ bilden, welches „das Bild seines eigenen Gesichts nachzieht“. Die Parabel hat zwar
nur zwei Enden, doch beide haben ihrerseits kein Ende. So geht es immer weiter. Und womöglich werden doch noch Menschen nach Göttingen pilgern, wenn der neue Roman einmal erschienen ist. Weil Pynchon, der die Entropie zum literarischen Begriff gemacht hat, ihr Prinzip in seinen Büchern unterläuft. Sie verwandelt „Möglichkeiten in Einfachheiten“, steht in „Mason & Dixon“. Doch wenn das Phantom spricht, verwandeln die Echos einfache Tatbestände in unerhörte Vieldeutigkeiten.

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Frankfurter Allgemeine Zeitung